W. Linder u.a. (Hrsg.): Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen

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Titel
Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 - 2007.


Herausgeber
Linder, Wolf; Bolliger, Christian; Rielle, Yvan
Erschienen
Bern 2010: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
755 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Martin Fenner

Ein längst erwartetes Standardwerk, das einerseits einen systematischen Überblick über alle eidgenössischen Volksabstimmungen seit der Gründung des Bundesstaates vermittelt und andererseits, das ist mindestens zu hoffen, die wissenschaftliche Forschung und andere Tätigkeiten anregen wird. Entstanden ist es in Zusammenarbeit des Instituts für Politikwissenschaft der Universität, swissvotes. ch, mit dem Bundesamt für Statistik und der Bundeskanzlei.

Alle Artikel über die einzelnen (über 500) Vorlagen sind gleich aufgebaut und enthalten die folgenden Informationen: Vorgeschichte (Einbettung des Themas ins politische Umfeld); worum es geht; die öffentliche Auseinandersetzung im Vorfeld der Abstimmung; Ergebnis der Abstimmung; weiterführende Literatur. Ein Infokästchen zu Beginn orientiert über Stimmbeteiligung, Ja- und Nein-Anteile, Haltung der Kantone und verweist – besonders verdienstvoll – auf Abstimmungen in einem vergleichbaren Themenumfeld.

Die Rechtsgrundlagen der direkten Demokratie in der Schweiz sind bekannt und damit für den Einzelfall klar definierbar: obligatorische Referenden des Bundes, Volksinitiativen und fakultative Referenden.

Über ein Jahrhundert Einübung in die Geschichte der direkten Demokratie: Dieses politische Abenteuer begann zögerlich, um nicht zu sagen etwas dilettantisch mit dem Entscheid zur ersten Volksabstimmung unter den (selbstverständlich lauter männlichen) Stimmberechtigten zur Verfassung von 1848, weil in einem Drittel der Kantone die Kantonsparlamente beziehungsweise die Landsgemeinde den Entscheid fällten, in einem Fall wurden gar die nicht Stimmenden als Ja-Stimmen gezählt. Ergiebiger als solch ein Einzelfall ist schon ein Blick auf Zahlen: Das erste Viertel der Abstimmungsvorlagen fiel auf die ersten 90 Jahre bis 1939 und das letzte Viertel auf die letzten 15 Jahre! Und dies, obwohl die direktdemokratischen Rechte (Volksinitiative und fakultatives Referendum) bereits im späten 19. Jahrhundert eingeführt worden waren. Noch ergiebiger als solche Zahlenwerte ist die andere Beobachtung, dass die Themenbereiche von Volksabstimmungen im Lauf von anderthalb Jahrhunderten ein stets wandelndes Gewicht gehabt haben. Waren es anfänglich Themen der Staatsordnung im Sinn von Kompetenzausscheidungen zwischen Bund und Kantonen, traten nach 1950 eher wirtschaftliche, finanzielle, sozialpolitische, verkehrs- und umweltpolitische, kulturpolitische und aussenpolitische Anliegen in den Vordergrund. Das bezeugt die allmähliche Veränderung der Staatsaufgaben und des internationalen Umfelds der Bundespolitik.

Ein paar Beispiele: Oft ist im politischen Diskurs von «polit-pädagogischen Einbahnstrassen» die Rede: einfach ein paar Mal insistieren, unterstützt von entsprechenden Unternehmen in den Kantonen, und dann ist das Ziel erreicht (Themen Proporz und Frauenwahl- und -stimmrecht). Oder das Beispiel Mutterschaftsversicherung: Nach einem fulminant und mit überdurchschnittlich hoher Partizipation angenommenen Verfassungsartikel 1945, der zwar den Grundsatz festlegte, aber, um Wirkung zu entfalten, durch Gesetze präzisiert werden musste, scheiterten verschiedene Reformversuche, bis 2004 ein Kompromissvorschlag durchkam. Generell stellt sich hier die Frage, ob Vorlagen der Bundesversammlung erfolgreicher sind als Volksinitiativen.

Eine ähnliche Grundsatzfrage wirft das Thema «Überfremdung» auf (das Handbuch thematisiert übrigens auch immer wieder den zeitbedingten Gebrauch politischer Grundwörter). Auf ein 1928 im Parlament verabschiedetes Gesetz, das vor allem den Begriff des Schweizerbürgerrechts präzisierte, folgte eine jahrzehntelange politische Ruhe, bis ab 1970 Volksinitiativen erzwungen wurden. Sie wurden zwar alle in den Volksabstimmungen abgelehnt, spielten aber eine wichtige Rolle in den innenpolitischen Debatten.

Aussenpolitische Themen kamen lange Zeit kaum vor, haben aber in den letzten zwanzig Jahren vor allem im Zusammenhang mit der europäischen Frage einiges Gewicht erhalten. Auch hier endeten die Debatten im Prinzip mit dem Ja zum Status quo beziehungsweise zu Kompromissschritten des Bundesrats in den Verhandlungen mit der EU. Die Frage nach der faktischen politischen Bedeutung der direkten Demokratie stellt sich natürlich, lässt sich aber anhand der aufgeführten Beispiele nicht näher beantworten.

Das enzyklopädische Werk ist eine ungeheure Fundgrube und lässt sich auf ganz verschiedene Weise «lesen»: Es dient sicher einmal zur Orientierung als Nachschlagewerk zu einzelnen Abstimmungen, weil es einen raschen Zugriff zu den gewünschten Themen gestattet. Die Verweise zu politisch verwandten Abstimmungen ermöglichen einen raschen Zugriff zur Entwicklung eines Themenfelds, was sowohl für wissenschaftliche, politische und schulische Zwecke fruchtbar werden kann. Mit Blick auf die Abstimmungsresultate lassen sich – wenigstens themenorientiert – schnell Rückschlüsse auf das Verhalten einzelner Regionen beziehungsweise Kantone gewinnen. Zu hoffen ist, dass die Publikation die Forschung anregt (zu einzelnen Themenbereichen, zum Teil auch zu Kantonen und grossen Gemeinden, wo bisher nur wenige Studien vorliegen).

Das Handbuch als politischer Ratgeber: Das könnte der grösste Gewinn der Publikation werden. Wer politische Erfolge erwartet, kann sich bei der strategischen Planung an «Langzeitmustern» politischer Auseinandersetzungen orientieren, welche das Handbuch dokumentiert. Hier gilt allerdings: Die Vorlagen sind (vor allem bei parlamentarischen Vorschlägen) auf die politische «Machbarkeit » orientiert, aber gleichzeitig muss der historische und situative Wandel bedacht werden, welcher oft erstaunt (ein Beispiel: steuerpolitische Themen). Zu wünschen wäre auch eine Wirkung im Bildungsbereich (Grundausbildung auf der Sekundarstufe II und in der Weiterbildung, unter anderem für Maturaarbeiten, Arbeiten an Fach[hoch-]schulen). Insgesamt belegt der Band, wie sehr die um die historische Komponente bereicherte Politikwissenschaft, wie sie in Bern seit der Zeit von Erich Gruner immer wieder überzeugende Beispiele gefunden hat, eine «dritte Dimension» gewinnt, die besonders fruchtbar ist.

Zitierweise:
Martin Fenner: Rezension zu: Wolf Linder, Christian Bolliger, Yvan Rielle (Hg.), unter Mitarbeit von Roswitha Dubach, Manuel Graf und Brigitte Menzi: Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 bis 2007. Bern, Haupt Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 499-501

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 499-501

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